
Helden und Opfer hier, Leid und Schicksal dort: Die Paralympics in Sotschi bieten nun offenbar wieder zahlreiche Anlässe zur stereotypen Berichterstattung über Menschen mit Behinderung.
Treue Leser erinnern sich vielleicht daran, dass ich erst vor einiger Zeit forderte, dass die Klischees doch endlich aus den Medien verschwinden mögen. Doch viel passiert ist in der Zwischenzeit leider nicht.
Immerhin werden die Paralympischen Winterspiele überhaupt im deutschen TV übertragen. Leider bekommen sie jedoch deutlich weniger Aufmerksamkeit und Sendezeit als die kürzlich beendeten Olympischen Winterspiele, aber auch als die Paralympischen Sommerspiele 2012 in London. Insgesamt ist der Trend zur gesteigerten medialen Aufmerksamkeit allerdings ein positiver.
Doch es gibt immer noch einen Haken: die Tonalität der Berichte.
„Andrea Eskau strebt nach Perfektion – trotz Behinderung.“
– Warum „trotz“?
„Er leidet an seiner Behinderung.“
– Hat er das gesagt?
„Sie überwindet ihr Schicksal.“
– Wer bestimmt hier, was es zu überwinden gibt?
Das muss doch nun wirklich nicht sein, oder?!

„Sport mache ich nicht “trotz” sondern einfach “mit” meiner körperlichen Einschränkung. Es ist ein Teil meines Lebens, der mich nicht davon abhält, mein Können unter Beweis zu stellen. Natürlich sind auch die Erfolgserlebnisse ein wichtiger Bestandteil und Motivation.“ – Martin Fleig, Biathlet bei den Paralympics 2014 in Sotschi; Copyright: Leidmedien.de
Solche und andere Beispiele findet man leider häufig – sei es aus Fahrlässigkeit oder schlichter Unwissenheit, wie man es besser formulieren könnte. Das Projekt Leidmedien.de sammelt solche Beispiele und stellt sie sowohl bei Facebook als auch bei Twitter zur Diskussion. Gerne weisen sie die jeweilige Redaktion außerdem darauf hin, dass auch eine andere Formulierung möglich und eben auch angebrachter wäre.
Zu den Paralympics in Sotschi haben Lilian Masuhr und ihre Kollegen nun auf der Homepage eine extra Rubrik „Sotschi“ eingeführt. Hier kommen seit ein paar Tagen immer mehr hilfreiche Hintergrundartikel aber auch Linksammlungen zusammen.
Zweck der neuen Rubrik: Journalisten, die über die Paralympics berichten wollen, soll auf diese Weise eine geholfen werden – mit Vorschlägen zu möglichen thematischen Ansätzen, aber auch Tipps für geeignete Begriffe.
Natürlich verfolgt das Team von Leidmedien diesen Ansatz auch unabhängig von den Paralympics. Die gebündelte Form zu einem Dossier macht es interessierten Journalisten jedoch einfacher.

“Ich fahre Ski, weil ich Spaß dabei habe und auch weil mir der Wettkampf mit und gegen andere Spaß macht. Ich kämpfe niemals gegen meine Behinderung, die spielt im Wettkampf keine Rolle.” – Andrea Rothfuss, Skirennläuferin und Teilnehmerin bei den Paralympics 2014 in Sotschi; Copyright: Leidmedien.de
Am Eröffnungstag der Paralympics gab Lilian Masuhr morgens ein Radiointerview, um Journalisten noch kurzfristig für bestimmte Formulierungen und auch Sichtweisen zu sensibilisieren. In dem kurzen Interview wies sie beispielsweise daraufhin, dass es rund um die Paralympics wünschenswert sei, den Sport in den Fokus der Berichterstattung zu rücken, und nicht die Behinderung. Dabei sollte man sie aber bitte weder als Opfer noch als Helden darstellen, sondern einfach als das, was sie sind: Sportler.
Zum Ende hin macht sie meiner Meinung nach noch eine wichtige Aussage:
„Was ist wirklich beeindruckend? Ist es nicht beeindruckend, dass Andrea Eskau an den Sommer- und Winterspielen teilnimmt, […] dass sie ihre Freundin küssen will, wenn sie gewinnt, obwohl Homosexualität in Russland ein Problem ist? Das ist beeindruckend! Nicht dass jemand blind den Berg runter fährt.“
Deswegen, liebe Journalisten, liebe Kollegen, öffnet euch für das Thema und lasst euch wirklich darauf ein, wenn ihr berichten wollt. Werft einen Blick über den Tellerrand und löst euch von eventuell eingestaubten Denkmustern. Denkt um die Ecke und versucht, die wirklich beeindruckenden Geschichten rund um die Paralympics-Sportler zu finden – indem ihr sie einfach als das seht, was sie sind: Menschen und Sportler.

“Ich sehe die Behinderung definitiv nicht als Schicksal. Schicksal ist für mich negativ behaftet. Der Rollstuhl ist für mich absolut normal und selbstverständlich. Deshalb gibt’s auch nichts zu überwinden. Das Skifahren ist meine Leidenschaft und nichts anderes.” – Anna Schaffelhuber, Monoskifahrerin und Behindertensportlerin des Jahres 2013; Copyright: Leidmedien.de
Service
Hier noch ein paar andere hilfreiche und interessante Links:
- PDF: Tipps für Medien – Über Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung berichten
- Raúl Krauthausen über die Paralympics
- Dekade Drei: „Er ist an den Rollstuhl gefesselt”
- Paralympics: Deutsche Bahn verprellt Behinderte
- Paralympics in Russland: Die Hoffnung der Ausgestoßenen
- Samsung Goes ‚Real, Raw and Pitiless‘ in Gritty Paralympics Ad
Kennt ihr ähnliche Negativ-Beispiele? Oder sind euch auch mal besonders positive Beispiele aufgefallen?
Ein Gedanke zu “Paralympics 2014: Bitte keine Klischees mehr, liebe Medien!”